Erkenntnisse durch die Berechnung von Arbeitsvolumen und Vollzeitäquivalenten

Eine Grundlage des sogenannten deutschen „Jobwunders“ ist die Wahrnehmung von Arbeitsmarktdaten in der Form von Kopfzahlen der Erwerbstätigen sowie der Erwerbs- und Arbeitslosen. Bei dieser Art der Datenerfassung geht es vor allem um Indikatoren, bei denen jede einzelne betroffene Person gleich gezählt wird.

Jahresarbeitsvolumen und Zahl der Erwerbstätigen 1991 - 2013
mit freundlicher Genehmigung von www.sozialpolitik-aktuell.de

Doch ist eine solche Messung reiner Kopfzahlen überhaupt noch zeitgemäß, wenn sich der Arbeitsmarkt in Wirklichkeit immer weiter von der reinen Vollbeschäftigung der Erwerbskräfte entfernt?

Entgegen des von vielen Medien verbreiteten einfachen Konzeptes der reinen Kopfzahlenerfassung hat die moderne „Zerklüftung“ des Arbeitsmarktes auch dazu geführt, vermehrt alternative Modelle zur Messung des Arbeitseinsatzes zu entwickeln. Den tatsächlichen zeitlichen Umfang geleisteter Erwerbstätigkeit ermitteln beispielsweise die Feststellung des gesamten Arbeitsvolumens oder das Prinzip der Vollzeitäquivalente.

In diesem Beitrag soll es nun um einen Vergleich der beiden letztgenannten Methoden untereinander sowie gegenüber dem Prinzip der Kopfzahlenerfassung gehen. Am Ende soll dann aufgrund dieses Vergleichs eine alternative Beurteilung der Entwicklungen am deutschen Arbeitsmarkt erfolgen.

Dafür ist es allerdings erst einmal notwendig, eine Definiton für die bisherige konventionelle Messung der Erwebstätigkeit darzustellen:
Seit 1995 gilt für die Erfassung der Beschäftigten das „Europäische System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen“ (ESVG) als Leitlinie. Darin werden Erwerbstätige als „alle Personen -Arbeitnehmer und Selbständige-, die innerhalb der Produktionsgrenze des ESVG eine Produktionstätigkeit ausüben“ (ESVG 1995, Kapitel 11 „Bevölkerung und Arbeitseinsatz“, Abschnitt 11) bezeichnet.

Demnach gibt es keine zeitliche Grenze für die Erwerbstätigkeit. Dies bedeutet, dass auch Personen als erwerbstätig gelten, die in einem gegebenen Zeitraum nur eine Stunde gearbeitet haben. Ebenso gehören dazu auch Personen, die zur Zeit nicht arbeiten, aber sich in einem festen Beschäftigungsverhältnis befinden. Dies betrifft z. B. Personen in Elternzeit oder auch in der Freistellungsphase der Altersteilzeit. Aber auch unentgeltlich Arbeitende wie mithelfende Familienmitglieder werden ebnso erfasst.

Man kann also festhalten, dass die Erwerbstätigkeit nach der Definition der ESVG (übrigens im Einklang mit den Vorgaben der Internationalen Arbeitsorganisation ILO) sehr weit ausgelegt wird. Jeder Erwerbstätige wird genau einmal gezählt (es handelt sich wie bereits erwähnt um ein Personenkonzept), ohne besondere Berücksichtigung der tatsächlichen zeitlichen Dauer der Beschäftigung.

In der amtlichen Statistik tauchen dann die Zahlen der Arbeitnehmer gemäß der Erwerbstätigenrechnung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung auf, die nach genau diesem Prinzip funktioniert. So läßt sich mit diesen Daten eine erhebliche Erfolgsgeschichte belegen: seit 2004 stieg die reine Zahl der Erwerbstätigen von ca. 38 Millionen auf fast 42 Millionen Personen in 2013, eine Entwicklung, die auch von der Finanzkrise 2008/2009 nicht wesentlich gebremst werden konnte. Über diesen Zeitraum ist ein deutlicher Trend zu immer mehr Beteiligung der Bevölkerung an der Erwerbsarbeit zu beobachten.

Doch hat diese Methode der reinen Kopfzählungen erhebliche Schwächen. Sowohl die Ermittlung der Erwerbstätigen als auch der Erwerbslosen allein über die Anzahl der Menschen, die am Arbeitsleben beteiligt bzw. nicht beteiligt sind, sagen nichts über den zeitlichen Umfang der geleisteten oder gesuchten Tätigkeiten aus.

Zwar ist das sogenannte Normalarbeitsverhältnis (= eine unbefristete und zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber vertraglich geregelte Vollzeitbeschäftigung) noch immer der Regelfall für die meisten Erwerbstätigen, doch die Zahl derjenigen, die in atypischen Beschäftigungsverhältnissen stecken (= Teilzeitbeschäftigung unter 20 Stunden, geringfügig entlohnte, befristete und in Zeitarbeit geleistete Beschäftigung), hat seit 2000 erheblich zugenommen. So befinden sich heute bereits über 25 % der Bevölkerung in atypischer Erwerbstätigkeit, gegenüber nur 19 % am Anfang des Jahrtausends.

Dies ist die Folge dramatischer Veränderungen am Arbeitsmarkt. In immer mehr Branchen wurden flexible Arbeitszeiten vereinbart, häufig durch die Einführung von Arbeitszeitkonten. Zugleich hat die Teilzeitbeschäftigung kontinuierlich zugenommen und die Entwicklung neuer Arbeitszeitmodelle erforderlich gemacht. Ein solch erheblicher Wandel innerhalb der Arbeitszeitlandschaft sorgte auch dafür, dass eine bloße Ermittlung der Erwerbstätigkeit aufgrund von Kopfzahlen für eine wirklich umfassende Analyse der Arbeitsmarktsituation als nicht mehr ausreichend betrachtet werden kann.

So ist es denn auch schlicht unmöglich, die Frage, ob eine höhere Anzahl von Erwerbstätigen durch gesamtgesellschaftlich mehr geleistete Arbeit entstanden ist oder aber ob ein gleichbleibendes (oder gar sinkendes) Arbeitsvolumen von mehr Personen mit jeweils geringerer Arbeitszeit geleistet wird, nach dieser Definition tatsächlich zu beantworten.

Dazu benötigt man stattdessen eine statistische Meßzahl, mit der man den gesamtgesellschaftlichen Arbeitseinsatz feststellen kann, beispielsweise anhand des Arbeitsvolumens oder des Vollzeitäquivalents der Erwerbstätigkeit.

Im Unterschied zum Kopfzahlenprinzip wird beim Arbeitsvolumen die tatsächlichen geleisteten Arbeitsstunden aller Erwerbstätigen innerhalb eines bestimmten Zeitraumes gemessen, auch Nebentätigkeiten und Überstunden gehören dazu. Außen vor bleiben dabei Wegezeiten sowie Arbeitsstunden, die zwar entgolten, aber nicht abgeleistet werden, wie z. B. Urlaub und Fehlzeiten durch Krankheit. Auch für Selbstständige und mithelfende Familienangehörige gibt es eine verkürzte Berechnung, welche die normalerweise geleisteten Arbeitsstunden mit einbezieht.

Die aus mehr als 20 verschiedenen Statistiken (u. a. vom Statistischen Bundesamt, dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und den Statistikämtern der Länder) bestehenden Komponentenberechnungen werden in einem Gesamtmodell zusammengeführt und sind fester Bestandteil der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen. Auf dieser Basis lassen sich zusäzlichen wichtige Kennzahlen wie z. B. die Stundenproduktivität, errechnen. Damit ist eine wesentlich weiterere und intensivere Analyse des Wirtschaftsgeschehens bzw. des Arbeitsmarktes möglich als mit der reinen Kopfzahlen-Methode.

Nach den Ergebnissen des IAB wurden 2010 in Deutschland ca. 57 Millionen Arbeitsstunden geleistet. Im Gegensatz dazu lag dieses Volumen 1991 noch bei etwa 60 Millionen Stunden. Der starke Trend zur Teilzeitarbeit wird für das langfristige Zurückgehen des Arbeitsvolumens im Wesentlichen verantwortlich gemacht. 1991 lag die Arbeitszeit je Erwerbstätigen im Durchschnitt noch bei 1.545 Stunden, 2010 waren es nur noch 1.405 Stunden, 2013 noch 1.388 Stunden. Im gleichen Zeitraum ist die Teilzeitquote von 15 Prozent auf fast 35 Prozent gestiegen.
Demgegenüber hat sich die durchschnittliche Jahresarbeitszeit in Vollzeit zwischen 1991 und 2010/2013 kaum verändert.

Arbeitsstunden pro Jahr je Erwerbstätigen 1970 - 2013
mit freundlicher Genehmigung von www.sozialpolitik-aktuell.de

Der Rückgang der durchschnittlichen Jahresarbeitszeit ist daher auch nicht das Ergebnis allgemeiner Arbeitszeitverkürzungen, sondern vor allem eine Folge von struktuellen Veränderungen der Erwerbstätigkeit durch die Zunahme des Teilzeitarbeitsvolumens.

Somit kann man konstatieren, dass sich das Arbeitsvolumen und die Zahl der Beschäftigten in den letzten 20 Jahren eher gegensätzlich entwickelt haben. So gibt es heute mehr Erwerbstätige, die aber insgesamt weniger Arbeitsstunden ableisten. So hat diese Art der Feststellung des Arbeitsvolumens zu einer Erkenntnis geführt, die man bei einer bloßen Betrachtung der Kopfzahlen auf dem Arbeitsmarkt übersehen würde: Höhere Erwerbstätigenzahlen müssen nicht zu einem gleich hohen Anstieg des Arbeitsvolumens führen, wenn sich die Beschäftigtenstruktur beziehungsweise die durchschnittlichen Arbeitszeiten ändern und sich das Arbeitsvolumen auf mehr Köpfe verteilt.

Bei der sogenannten Vollzeitäquivalente handelt es sich dagegen um eine hypothetische Größe, die dazu benutzt wird, zu berechnen, wie hoch die Zahl der Erwerbstätigen ausfallen würde, wenn jeder von ihnen eine Vollzeitstelle hätte. Im schon oben zitierten ESVG 1995 wird die Vollzeitäquivalente als „Zahl der auf Normalarbeitszeit umgerechneten Beschäftigungsverhältnisse“ (ESVG 1995, Kapitel 11, Abschnitt 32) definiert.

Da die Ergebnisse der Berechnungen mit Vollzeitäquivalenten ähnlich ausfallen wie die Ermittlung der Arbeitsvolumen (auch hier führt die zunehmende Bedeutung der Teilzeitbeschäftigung zu einem Auseinanderdriften der absoluten Zahl der Erwerbstätigen und der Erwerbstätigen in Vollzeitäquivalenten), hat man sich auf europäischer Ebene im ESVG 1995 auf die Vorgabe festgelegt, demnach „das Arbeitsvolumen der beste Meßwert für den Arbeitseinsatz ist“ (ESVG 1995, Kapitel 11, Abschnitt 34).

Anhand der obigen Ausführungen sollte gezeigt werden, dass vor allem das Arbeitsvolumen als Ergebnis der Arbeitszeitrechnung ein notwendiges und besseres Maß des Arbeitseinsatzes ist, um die Entwicklung der Erwerbstätigenzahlen zu interpretieren und weitere Erkenntnisse abzuleiten.
Diese Notwendigkeit zeigt die Entwicklung der Erwerbstätigkeit in Deutschland seit den 1990er Jahren: Während die Zahl der Erwerbstätigen in diesem Zeitraum insgesamt deutlich anstieg, ging die Zahl der gesamtwirtschaftlich geleisteten Arbeitsstunden zurück.

Oder anders gesagt: entgegen den Jubelgesängen vieler Medien wurde nicht das Volumen der Arbeit insgesamt erweitert, sondern die vorhandene Arbeit lediglich auf mehr Schultern verteilt. Nimmt man nun noch die bekannte Lohn- und Gehaltsentwicklung der vergangenen Jahrzehnte hinzu, so ist es nicht schwer, sich die Probleme dieses Prozesses vor Augen zu führen.

Zeitgleich mit dieser Entwicklung haben unsichere und schlecht bezahlte Tätigkeiten zugenommen, laut OECD stieg in Deutschland die Niedriglohnbeschäftigung im Vergleich aller Industriestaaten am stärksten an, gerade die üblichen Teilzeitbeschäftigen wie Minijobber, Leiharbeiter, Jugendliche und befristet Beschäftigte sind hiervon besonders betroffen.

Zudem hat sich die alte Verknüpfung von wirtschaftlicher Effizienz und gesellschaftlicher Solidarität – eigentlich ein Kennzeichen der sozialen Marktwirtschaft – aufgelöst. Niedrige Einkommen und Beschäftigungsunsicherheit haben dagegen erheblich zugenommen. Neu ist dabei auch, dass sich prekäre Arbeit, also Beschäftigung deutlich unter den üblichen sozialen Standards, nicht mehr auf atypische Beschäftigungsformen beschränkt, sondern tief ins Normalarbeitsverhältnis eingedrungen ist.

Über die sonstigen Auswirkungen der deutschen Arbeitsmarktentwicklung, insbesondere in der Form von sinkenden Löhnen im Verhältnis zu volkswirtschaftlichen Produktivität, also den sogenannten Lohnstückkosten, die als eine der Hauptursachen für die Eurokrise angesehen werden, ist in diesem Blog schon oft geschrieben worden.

Und dabei ist entgegen den gern gepflegten Mythen vom „Aufschwung“, „Boom“ und „Jobwunder“ gar keine neue Arbeit geschaffen worden, sondern nur die vorhandene neu umverteilt worden. Auch das wird erst sichtbar, wenn man die übliche Betrachtungsweise der Beschäftigtenzahlen hinterfragt und mit der Bestimmung des Arbeitsvolumens neue Wege beschreitet.