Gehen wir zurück zum Mayday 1975, dem Ende der festgeschriebenen hohen Provisionen an der New York Stock Exchange und dem Beginn der Deregulierung der Finanzmärkte in den Vereinigten Staaten. Das Aufkommen des Wettbewerbs unter den Wall-Street-Investmentbanken erschien zu dieser Zeit eher wie eine unbedeutende Angelegenheit.
Die New York Stock Exchange an der Wall Street in New York
Doch genauso war es auch im folgenden Jahr mit einem „Offenen Brief an die Hobbyisten“ über Software-Piraterie von einem College-Aussteiger namens Bill Gates („Wer kann es sich leisten professionelle Arbeit für nichts zu tun?“).
Mao Zedong starb im September 1976; nach einem kurzen Kampf hinter den Kulissen übernahm eine neue Führung in China. Zwei Jahre später verkündete Deng Xiaoping den Beginn seiner Reform- und Öffnungspolitik.
Und im Jahr 1977 prägte Lewis Ranieri das Wort „Verbriefungen“, um Salomon Brothers Herausgabe der allerersten Mortgage Backed Securities zu beschreiben. Die Korrekturabteilung beim Wall Street Journal beanstandete damals, dass es ein solches Wort nicht gäbe.
Dreißig Jahre später, als die Krise von 2007-08 vorbei war – nachdem sich die Panik gelegt, der Welthandel seinen alarmierenden Zusammenbruch überstanden, Präsident Obama sein Amt angetreten, das Ausmaß der Rezession sich offenbart hatte und die Mühlen der Politik trotzdem unbeeindruckt weiterliefen – entwarfen Moritz Schularick und Alan Taylor einen Überblick, der in ruhigeren Zeiten die Grundzüge dessen klarmachte, was überhaupt geschehen war.
Der Aufstieg des „Collateralized Banking“
Die Wirtschaftshistoriker – Schularick von der Freien Universität in Berlin, Taylor von der Universität von Kalifornien in Davis – trafen sich im April 2009 in London. Im September zuvor hatte der Theoretiker John Geanakoplos ein heftig diskutiertes Papier über „Leverage Cycles“ veröffentlicht. Wie, so überlegten die beiden, würde eine Geschichte über Geld, Kredit und Produktion wohl aussehen, wenn man lange genug zurückging, um solche Dinge beurteilen zu können?
Taylor hatte viele historische Daten für eine frühere Ausarbeitung über internationale Währungen und Kapitalströme gesammelt. Nach ein paar Monaten des Durchkämmens von diversen Bibliotheken besaßen sie dazu noch Bankunterlagen für 14 Industrieländer über mehr als 140 Jahre. Obige Abbildung stellt eine Zusammenfassung ihrer Daten dar. Ihr Papier Credit Booms Gone Bust: Monetary Policy, Leverage Cycles and Financial Crises 1870-2008 erschien im November, doch es wurde vor allem wegen der Aufregung um die zwei Monate zuvor publizierte Arbeit „Dieses Mal ist alles anders: Acht Jahrhunderte Finanzkrisen“ von Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff weitestgehend übersehen.
Schularick und Taylor waren nicht zurückhaltend mit dem, was sie gefunden hatten – zwei verschiedene „Epochen des Finanzkapitalismus“ in den vergangenen 140 Jahren. Das erste, ein „Zeitalter des Geldes“, welches durch den Goldstandard geprägt war, dauerte von 1870 bis 1939. Das zweite begann im Jahr 1945, als verschiedene monetäre und regulatorische Rahmenbedingungen in Kraft traten und der Wiederaufbau nach dem Krieg begonnen wurde. Bis 1970 übertrafen die verschiedenen Wirtschaftsaggregate ihre Vorkriegs-Höhen (im Verhältnis zum BIP). Dennoch blieb die stabile Beziehung zwischen Geldmenge und Gesamtkreditvergabe der Banken (jeweils ebenfalls im Verhältnis zum BIP) an die hundert Jahre weitgehend intakt – aber die gesamten Bankaktiva hatten drastisch zugenommen.
Was war passiert? Es hatte einen weltweiten Boom von historischem Ausmaß gegeben. Die Banken und Investmentbanken hatten ein neues System der besicherten Anleihen erfunden, welches das alte Regierungssystem der Einlagensicherungen weit übertraf.
Diese unaufhaltsam ansteigenden Summen an Bank-Vermögenswerten waren Asset-Backed Securities, dieses „Buchstabengemisch“ neuer Schuldtitel, deren Ziel es war, mit kurzfristigen Geldern eine Rendite zu erzielen. Sie bildeten das Äquivalent zu den Sichteinlagen, außer dass sie sich auf Hunderte von Tausenden von Dollar beliefen und nicht von der Regierung abgesichert, sondern durch zum Kauf angebotene Versicherungspakete und durch als „Repos“ bekannte Rückkaufvereinbarungen legalisiert waren. Diese Sicherheitenpakete wurden entwickelt, um einem schmerzhaften Verlust im Falle eines „Scheiterns“ zu entgehen.
Hätte man dieses Ratio von Bank Assets zum BIP im Jahr 2008 kollabieren lassen, so wäre eine Great Depression II die Folge gewesen. Doch die Verbriefungen fielen nicht sämtlich aus, der Markt brach nicht vollends zusammen, dank der rechtzeitigen Kreditvergabe durch die US-Notenbank; und das System der besicherten Bankanleihen blieb intakt. Im November 2009 lag die Erkenntnis über all diese Vorgänge noch in der Zukunft; auch der eher unscharf beschreibende Begriff, „das Schattenbankensystem“ war noch nicht in Gebrauch gekommen.
Es hatte, wie Schularick und Taylor anmerkten, periodische Warnungen gegeben, dass die allzu großzügige Kreditvergabe zu Instabilität führen könnte. Die auffälligste davon kam von Hyman Minsky, Joseph Schumpeters einstigen Schüler, der wenn auch nicht allzu klar argumentierte, dass regelmäßige „Verschiebungen“ – große neue Chancen auf Gewinn, keine von ihnen gleich denen zuvor, aber alle in einem gewissen Grad ähnlich – Aufschwünge und Booms befeuern würden, die dann aufgrund der Dynamik des kapitalistischen Finanzwesens ultimativ in Abstürzen enden könnten.
Minskys Ansichten wurden dem lesenden Publikum hauptsächlich durch das Büchlein Manien – Paniken – Crashs. Die Geschichte der Finanzkrisen dieser Welt von Charles P. Kindleberger nähergebracht. Minsky wurde dabei als ungewöhnlich pessimistisch, auch „schwermütig“ bezeichnet, doch Kindleberger schrieb, dass die allgemeine Gültigkeit seines Modells sich in der Vergangenheit gut nachweisen ließ. Mildere Warnungen in der Gegenwart – von Henry Kaufman, Allen Sinai, Claudio Borio und William White neben anderen – blieben aber ebenso unbeachtet.
Solche Ängste standen klar im Widerspruch zum Geist dieses ökonomischen Zeitalters, in dem seit dem Modigliani-Miller-Theorem von 1958, wonach Fremd- und Eigenkapital formal äquivalent waren, der Verschuldungsgrad keine Rolle mehr spielte. Die Einzelheiten der Kapitalstruktur der Unternehmen wurden dadurch eher nebensächlich.
Schularick und Taylor nannten diese Mischung von Paläo-keynesianischer, neuklassischer und Finanzmarkt-Doktrin die „Irrelevanz-Ansicht“ des Kredites und stellten fest, dass diese eine „Geld-Sicht“ einer früheren Epoche ersetzte, nach der die Höhe der Kreditvergabe der Banken keine große Bedeutung hatte, solange die Bank-verbindlichkeiten eng den verschiedenen Geldmengenaggregaten folgten. Doch tatsächlich hatte sich seit den 1980er Jahren eine „Kredit-Sicht“ begonnen durchzusetzen, angetrieben unter anderem von Ben Bernanke – offenbar gerade noch rechtzeitig. Die Schatten von Henry Thornton, Walter Bagehot, Irving Fisher und Milton Friedman waren wieder hervorgerufen worden. Und das ist es, wie die Dinge im November 2009 standen.
Denken wir ein wenig über diesen globalen Boom nach und warum sich das Bankensystem so zu verändern begann, wie es das in den 1970er Jahren tat. Dies ist nicht so sehr eine Frage der Konjunkturzyklen, wie es etwa vom National Bureau of Economic Research identifiziert wurde, oder wie bisher der durch das Bureau of Economic Analysis des Commerce Department zusammengestellten volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Vieles, was wir über diese 30 Jahre des „Strukturwandels“ wissen, verdanken wir stattdessen dem Journalismus.
Der Boom beginnt
Noch bevor die Deregulierung formal begann, gab es viele, die an den Toren hämmerten. Henry B. R. Brown und Bruce Bent, Führungskräfte im Vorstand der Teachers Insurance and Annuity Association, nutzten 1971 ein Schlupfloch, um den ersten Geldmarktfonds aus der Taufe zu heben. Im selben Jahr verwendete der ehemalige Marine-Corps-Captain Frederick Smith, gerade aus Vietnam zurück, sein Erbe von 6 Mio. Dollar zur Gründung von Federal Express (FedEx). Und William G. McGowan, der mit MCI Communications in das Ferngesprächs-Business eintrat. Und Helmut Weymar, ein Kakao-Einkäufer für Nabisco, startete bereits 1969 abgesichert durch seinen Doktorvater Paul Samuelson den ersten computergestützten quantitativen Hedge-Fonds, der mit mathematischen und statistischen Modellen arbeitete.
Gibt es einen Namen für diesen Weg, sich den Lebensunterhalt zu verdienen? Es hängt davon ab, wer die Bezeichnung vergibt. Für diejenigen, deren eigene Gewinne das Ziel waren – die Bankenbranche, die Post, die Telefongesellschaften, Rohstoffproduzenten – waren diese Firmen einfach nur Piraten, die auf Biegen oder Brechen die etablierten Regeln verletzten. Erst nachdem der riskante Einstieg erfolgreich war, gewährte man ihnen die vornehmere Bezeichnung „Unternehmer“.
Und was mögen sich Finanzminister George Shultz und sein Stellvertreter William Simon dabei gedacht haben, als sie den Bericht von Professor James Lorie von der University of Chicago in Auftrag gaben, der zu der Verabschiedung der Novelle des Securities Acts im Jahr 1975 führte? Es war die wohl wichtigste Rechtsvorschrift, die die Finanzwelt seit dem New Deal beeinflusste (und in den Jahren seit 1975 die am wenigsten in Erinnerung gebliebene!).
Schon bald übernahmen die Banken, mit nahezu unbegrenztem Zugang zu Kapital ausgestattet, all jene Geschäftsfelder, die einst zu den ureigensten der Wall Street gehört hatten, einschließlich dem Investment Banking, offenen Investmentfonds und der Abfertigung und Regelung von Geschäften an den Finanzmärkten. Die Investmentbanker spezialisierten sich: Drexel Burnham Lambert auf Ramschanleihen (Junk Bonds), Salomon Brothers auf Verbriefungen, First Boston auf die Unterteilung von Collateralized Debt Obligations in Tranchen, Merrill Lynch auf die Kapitalbeschaffung und JP Morgan auf Swaps.
Für die Regulierungsbehörden, die die Geschichte des dreißigjährigen Boom mit geprägt haben, waren George Shultz und Paul Volcker eindeutig die bedeutendsten Persönlichkeiten. Beide sind auch heute immer noch aktiv an den aktuellen Kontroversen beteiligt. Doch während Volckers Rolle von vielen Autoren ausführlich untersucht worden ist, geriet Shultz in Vergessenheit.
Ebenso gibt es bis heute noch keinen vergleichbaren Bericht über das Leben von Professor William Baxter von der Stanford Law School, dem Assistant Attorney General für das Kartellrecht in den frühen Jahren der Reagan-Administration, der das jahrhundertealte „Bell-System“ aufbrach: durch die Aufteilung von AT&T in sieben konkurrierende und unabhängig operierende Gesellschaften sowie durch die Beendigung des seit langem andauernden Kartellverfahrens der Regierung gegen IBM am gleichen Tag im Jahre 1982.
Doch der generelle Punkt ist der, dass es ein sehr kompliziertes Unterfangen darstellt, eine Geschichte dieses Booms zu erzählen. Irgendwann wird jemand einen kompetente und nüchterne Abrechnung über das Leben und die Zeiten einiger der bedeutendsten Persönlichkeiten des dreißigjährigen Aufschwungs schreiben. Dafür wären allerdings noch einige tausend Worte über die Triebkräfte des Wandels nötig. Doch hier und heute wollen wir uns nur auf das Wichtigste beschränken.
„Alte Löwen“ ins Aus
Für die alten Löwen der Ökonomie, Paul Samuelson und Milton Friedman, bedeuteten die 80er Jahren einen bittersüßen Abschied aus dem Mittelpunkt der Wirtschafts-wissenschaften, die sie vierzig Jahre lang dominiert hatten. Die beiden waren nun in ihren Sechzigern angelangt; und beide hatten eigentlich noch Luft für mehr. Doch die Anführer der nächsten Generation hatten bereits deutlich auf sich aufmerksam gemacht: Robert Lucas in der Makroökonomie; Kenneth Arrow bei fast allem anderen.
Die Wahl von Ronald Reagan war noch einmal ein Triumph für Friedman; sie kannten einander, seitdem Friedman an die Stanford Universität in Los Angeles gewechselt war, kurz nachdem Reagan zum Gouverneur von Kalifornien gewählt wurde. Er reiste für Vorträge nach China und der internationale Erfolg seines Werkes „Free to Choose“ hielt ihn in der Öffentlichkeit.
Doch Paul Volcker wählte einen anderen Ansatz für seine Geldpolitik als den von Friedman befürworteten und Friedmans Prognosen waren deutlich schlechter geworden. Die Redaktion des Wall Street Journals suchte sich ausgerechnet seinen langjährigen Rivalen in Währungsangelegenheiten Robert Mundell als neuen Favoriten aus, und protegierte fortan dessen jungen Mitarbeiter und Berater Arthur Laffer.
Friedmans Opposition zu Volcker, die 1983 bei einem Treffen mit dem Präsidenten in dem Vorwurf gipfelte, „die Politik der US-Notenbank unter diesem Mann hat zu einem Inflationsschub in der Geldmenge geführt, der korrigiert werden muss“, ließ seinen Einfluss weiter sinken. Mit Paul Samuelson leistete er sich eine folgenreiche Fehde über die Finanzierung der National Science Foundation (NSF), er forderte scharfe Einschnitte bis hin zu einer möglichen Abschaffung der NSF. Friedman argumentierte, dass die Regierung nicht für die wissenschaftliche Forschung zahlen sollte. Beide damaligen Newsweek-Kolumnisten lieferten sich einen erbitterten Schlagabtausch über monetaristische und keynesianische Wirtschaftspolitik. Am Ende zog sich Samuelson verbittert und resigniert zurück und schrieb nie wieder Kolumnen für Newsweek.
Die „jungen Löwen“ machen sich breit
Für die jungen Stars des Keynesianismus in den 1980er Jahren stellten die Makroökonomie der rationalen Erwartungen sowie die Theorie der realen Konjunkturzyklen eine erhebliche Hürde dar. Um in den neuen Traditionen zu arbeiten, benötigte man beträchtliche Investitionen in neue Werkzeuge und mathematische Techniken, die zudem auch nicht sehr direkt die Politik ansprachen.
Ein starkes Korps von Ökonomen ging an die Arbeit, um eine „neue keynesianische“ Version der aktuellen allgemeinen Gleichgewichtstheorie zu schaffen. Doch nach und nach verließ ein aufgehender Stern nach dem anderen dieser neuen „Saltwater economics“ die Wissenschaft, um einen Job in der Politik zu übernehmen.
Martin Feldstein von der Harvard University war der erste. Als so etwas wie ein Ministrant von Milton Friedman gehörte Feldstein nie wirklich zu den „New Keynesians“, doch er zeigte viel professionelles Rückgrat als Vorsitzender des Council of Economic Advisers unter Ronald Reagan in den frühen Tagen der Kontroversen über staatliche Defizite, beor er 1984 wieder nach Harvard zurückkehrte.
Stanley Fischer vom Massachusetts Institute of Technology, oder kurz MIT war der nächste, der eine sehr erfolgreiche Karriere in der Forschung aufgab, um als Chefökonom der Weltbank zu dienen (ein Weg, der ihn zu Führungspositionen im Internationalen Währungsfonds, als Gouverneur der Bank of Israel und bis heute noch als stellvertretender Vorsitzender der Fed leitete). Lawrence Summers, ein Schüler von Martin Feldstein arbeitete bei der Präsidentschaftskampagne des demokratischen Kandidaten Michael Dukakis 1988 mit und folgte Fischer zur Weltbank, bevor er in der Clinton-Regierung zum Sekretär im Finanzministerium wurde.
Bald kam eine regelrechte Sintflut auf: Jeffrey Sachs, Joseph Stiglitz, Olivier Blanchard, Kenneth Rogoff, Gregory Mankiw, Glenn Hubbard und Christina Romer waren unter den am MIT oder in Harvard ausgebildeten Ökonomen, die für eine Regierung oder NGOs arbeiteten. Paul Krugman rüstete um auf Journalist. Die Listen von MIT- und Harvard-Absolventen in hohen Positionen in europäischen, südamerikanischen und asiatischen Regierungen sind sogar noch länger. Unterscheiden sich diese Karrieren in ihrer Art und Weise nicht stark von den Laufbahnen der Wirtschaftswissenschaftler in Zeiten der New Frontier oder des New Deals? Es gibt viele Hinweise darauf.
So war es im Jahr 2006 der Harvard-Ökonom Mankiw selbst , der in einem Artikel für das Journal of Economic Perspectives argumentierte, dass die Interessenunterschiede unter den heutigen Ökonomen am besten als ähnlich mit denen zwischen Wissenschaftlern und Ingenieuren zu verstehen seien. Die frühen Makroökonomen, von Samuelson und Friedman angeführt, hätten wie Ingenieure versucht, praktische Probleme zu lösen, während die Makroökonomen der letzten Jahrzehnte um Tjalling Koopmans, Jacob Marschak, Kenneth Arrow und andere sich mehr für die Entwicklung von Analysewerkzeugen und der Etablierung von theoretischen Grundlagen interessiert hätten.
Kürzlich war es Paul Romer, der eine weitere Unterscheidung feststellte, um einige der Kontroversen in der heutigen Makroökonomie aufzuklären – die zwischen experimenteller Forschung und der klinischen Medizin. Beiden Analogien wird wohl in den kommenden Jahren noch viel Forschungsarbeit gewidmet werden müssen, denn genau das ist, was sich seit den 1980er Jahren verändert hat: die Ökonomie entwickelte einen klinischen und eher praktischen Flügel.
Eine fabelhafte Dekade?
Im Jahr 2001 veröffentlichten Alan Blinder und Janet Yellen The Fabulous Decade: Macroeconomic Lessons from the 1990s. Sie hatten dabei vor allem die Politik der Clinton-Regierung im Hinterkopf, eine Kombination aus bescheidenen Steuererhöhungen und einer Lockerung der Geldpolitik, die zu raschem Einkommenswachstum und niedriger Inflation in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts sowie an ihrem Ende zu einem US-Haushaltsüberschuss geführt hatte. Schon früh hatten Ökonomen damit begonnen, diese Phase als die „Great Moderation“ zu feiern. Aber die 90er Jahre waren auch auf andere Weise fabelhaft gut.
Nach Chinas Eintritt in das Weltmarktsystem war klar geworden, dass der rigide Einfluss der Sowjetunion auf ihre europäischen Satelliten ins Wanken geriet. Polen war das erste Land, gefolgt von der Tschechoslowakei, Ungarn, und im Jahr 1989 Ost-Deutschland. Die Tiananmen-Platz-Proteste im gleichen Jahr prüften die Verbreitung der Demokratie in China, doch von 1991 an stand die Sowjetunion am Rande des Zusammenbruchs. Sie löste sich bis zum Ende des Jahres auf. Schnelles globales Wachstum folgte, unterbrochen von Finanzkrisen in Skandinavien, Mexiko, Asien und Russland. Auf dem Balkan entwickelten sich derweil überall gefährliche nationale Konflikte.
Die 90er Jahre sahen den Aufstieg des Internets. Was ursprünglich 1977 ein Militär- netzwerk mit rund 60 Knoten oder Verbindungspunkten gewesen war, wurde an die National Science Foundation in den 80ern und an private Unternehmen in den 90er Jahren übergeben. Nachdem sich das World Wide Web 1991 etabliert hatte und ab 1993 die ersten Browser auf PCs installiert wurden, entwickelte sich das Web zu einer Autobahn des Handels mit einem so rasanten Erfolg, dass die zweite Hälfte des Jahrzehnts einen Boom, eine Manie und einen Crash sah.
Auch das Finanzwesen preschte vor. Nach dem Schrecken des Jahres 1987, als der Dow Jones Industrial Average an einem einzigen Tag fast um 25 Prozent absackte, entwickelte sich eine ganze Industrie von neuen Unternehmen, die immer komplexer werdende Angebote und Deals zur Absicherung vor solchen Kursstürzen erfanden.
Eine Sparkassenkrise in den Vereinigten Staaten stimulierte eine neue Welle des Interesses am Bankengeschäft unter den Ökonomen. Die Deregulierung wurde weiter beschleunigt; ein Wall-Street-Ökonom verglich diese Entfesselung der US-Finanzbranche mit der Öffnung der Tier-Käfige in einem wohlgeordneten Zoo. Bis zum Ende des Jahrzehnts waren der Glass-Steagall Act und der McFadden Act vom Financial Services Modernization Act von 1999 abgelöst worden.
Sie kennen den Rest: Es gab eine leichte Rezession, einen Immobilienboom, eine Sparschwemme, eine Invasion in Afghanistan und im Irak, und im Jahr 2004 den Nobelpreis für „die treibende reale Kraft von dynamischen Konjunkturzyklen“ für Edward Prescott und Finn Kydland.
Und es nahte das Jahr 2007…
(Eigene gekürzte Übersetzung eines Blogbeitrages des Journalisten David Warsh)