Der Draghi-Bericht, ein Jahr danach: Europa steht immer noch in den Startlöchern

Ein Jahr nach seiner Veröffentlichung verstaubt der viel gepriesene Draghi-Bericht über die europäische Wettbewerbsfähigkeit.

Mario Draghi - Jahrestagung des Weltwirtschaftsforums 2012
Mario Draghi auf der Jahrestagung des Weltwirtschaftsforums in Davos 2012

Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit der zutiefst beschämten Ursula von der Leyen stellte Draghi selbst fest, dass sich Europa ein Jahr nach seiner eindringlichen Warnung vor einer existenz-iellen Herausforderung heute in einer „schwierigeren Lage“ befinde:

Nur ein Bruchteil der Empfehlungen des Berichts sei umgesetzt worden; die Kommission (teilweise gerechtfertigt durch die ständigen Notsituationen, mit denen sie konfrontiert ist) übt ihr Initiativrecht nicht ordnungsgemäß aus, wie sie es eigentlich sollte.

Am kritischsten sei, dass die Mitgliedstaaten gespalten sind und nur ungern mutige Schritte unter-nehmen, da sie sich nicht auf etwas Wesentliches einigen können, außer auf einen Aufrüstungswett-lauf, der am Ende nur die Taschen amerikanischer Unternehmen füllen wird.

Kurz gesagt: Angesichts der wachsenden globalen Instabilität wird Europa immer verwundbarer und verliert weiter an Boden gegenüber den Vereinigten Staaten und vor allem gegenüber China.

Um es klar zu sagen: Der Draghi-Bericht weist mehrere Mängel auf, insbesondere die zugrundeliegende Überzeugung, dass Europa dem US-amerikanischen Modell der Deregulierung, des Binnenmarktes und des unternehmerischen Staates nacheifern müsse.

Während er mehrfach Lippenbekenntnisse zur Bewahrung des europäischen Sozialmodells abgibt, scheint der Bericht dies eher als Hemmschuh denn als eine der Grundlagen für ein gerechteres und stabileres Wirtschaftssystem zu betrachten. Kurz gesagt, ein gemeinsamer Wohlstand.

Trotz seiner Unzulänglichkeiten hat der Bericht das Verdienst, dass er die Produktivität als Schlüssel zur Rückkehr zum Wachstum korrekt identifiziert. Und um die Wurzeln des unzureichenden Wachstums in Europa genau zu verstehen, ist es nützlich, den Bericht zu lesen, der von einer Gruppe von Ökonomen der Sciences Po unter der Koordination von Lionel Nesta veröffentlicht wurde und deren wichtigste Schlussfolgerungen letzte Woche veröffentlicht wurde.

Zunächst zeichnet der Bericht eine Kluft auf, die sich Anfang der 2000er Jahre zu vergrößern begann und dann durch die anschließende Staatsschuldenkrise noch verschärft wurde: Das Pro-Kopf-BIP der Eurozone fiel von etwa 85 % des US-Niveaus im Jahr 2000 auf 78,4 % im Jahr 2022 (für Italien, Europas wahren Kranken, war der Rückgang sogar noch dramatischer, von 94 % auf 74 %).

Im Gegensatz zu dem, was man denken könnte, ist diese Lücke nicht auf weniger Arbeitsstunden oder eine niedrigere Beschäftigungsquote zurückzuführen; Auch hier ist es wichtig, zwischen Niveaus und Veränderungen zu unterscheiden: Sicherlich haben die Europäer insgesamt immer weniger gearbeitet. Nichtsdestotrotz hat sich die Lücke in den letzten zwanzig Jahren sogar verringert, so dass sie die zunehmende Differenz in der Pro-Kopf-Produktion nicht erklärt werden kann.

Europas Achillesferse
Was ist also das Problem? Das Kernproblem ist ein anhaltender Einbruch des Wachstums der Arbeitsproduktivität, d. h. der Frage, wie viel Produktion pro Arbeitsstunde geschaffen wird. Für Nicht-Experten ist es wichtig zu beachten, dass wir nicht über Level sprechen.

Einige europäische Länder haben immer noch eine höhere Arbeitsproduktivität als die Vereinigten Staaten heute, aber seit fast dreißig Jahren wächst sie weniger. Diese Verlangsamung betrifft nicht nur das verarbeitende Gewerbe, das oft im Mittelpunkt der Debatte über die Deindustrialisierung steht, sondern erstreckt sich auch auf den Dienstleistungssektor.

In Frankreich beispielsweise sind die Sektoren, in denen sich der Abstand zu den USA am stärksten vergrößert hat, die Informations- und Kommunikationstechnologien, das verarbeitende Gewerbe und der Handel.

Die Arbeit von Nesta und seinen Co-Autoren identifiziert zwei Hauptursachen für die wachsende Kluft zu den USA und China. Die erste ist ein schwächeres Wachstum der totalen Faktorproduktivität, einem Indikator, der die Effizienz erfasst, mit der Produktionsfaktoren kombiniert werden und der technischen Fortschritt und Innovation widerspiegelt. Das zweite kritische Problem, das das erste verursacht, ist die chronische Unterinvestition.

Europäische Unternehmen investieren weit weniger als ihre amerikanischen Konkurrenten, nicht nur in traditionelle Geräte, Werkzeuge und Sachkapital, sondern vor allem in digitale Technologien und immaterielle Vermögenswerte wie Software, Forschung und Entwicklung sowie Datenbanken. Die US-Investitionen in IKT sind fast viermal so hoch.

Europa verliert den globalen technologischen Wettlauf. Seine Ausgaben für Forschung und Entwicklung sind nicht nur niedriger als die der USA (auch hier ist Italien das Schlusslicht in Europa), sondern auch die Chinas, das vor allem bei Spitzentechnologien schnell zunimmt. Dieser Mangel an Investitionen und Forschung führt automatisch zu weniger Innovation (insbesondere in strategischen Sektoren wie digitalen und grünen Technologien).

Eine Analyse von Patenten in zukünftigen strategischen Technologien – wie Künstliche Intelligenz, Quantencomputing und Cybersicherheit – zeigt diese Innovationslücke. Europa scheint auf eine Komfortzone der Spezialisierung auf ausgereiftere Technologien beschränkt zu sein, während sich die USA und das schnell aufstrebende China die Führungsrolle in hochmodernen Bereichen teilen.

Darüber hinaus bewegt sich die EU, wie bei allem, ungeordnet: Es fehlt an einer gemeinsamen und koordinierten strategischen Vision, wobei jedes große Land seinen eigenen nationalen Prioritäten folgt.

Ein Teufelskreis
Da die europäischen Unternehmen nicht in der Lage waren, bei Innovationen wettbewerbsfähig zu sein, haben sie sich auf die preisliche Wettbewerbsfähigkeit verlassen, eine Strategie, die sich als zwei-schneidiges Schwert erwiesen hat.

Während amerikanische Unternehmen dank größerer Marktmacht in der Lage waren, ihre Rentabilität zu halten oder zu steigern, haben die Unternehmen in Europa die Preise durch Kompression der Margen eingedämmt, eine Entscheidung, die Ressourcen von zukünftigen Investitionen abgezogen und einen Teufelskreis ausgelöst hat, der die Innovations- und Wachstumsfähigkeit einschränkt.

Ein Teufelskreis, könnte man hinzufügen, der durch die kurzsichtige Politik der Lohnzurückhaltung angeheizt wird, die von vielen Unternehmen und Regierungen verfolgt wird und die in dem illusorischen Versuch, die Gewinnspannen wiederherzustellen, dem Konsum die Flügel gestutzt und so zur geringen Dynamik der Profite beigetragen hat.

In diesem Zusammenhang erinnern wir daran, dass Italien unter allen OECD-Ländern das Land ist, in dem die Kaufkraft der Arbeitnehmer zwischen 1999 und heute gesunken ist.

Der Ausweg
Wie kommen wir aus dieser Sackgasse heraus? Der Schlüssel liegt in der Wiederbelebung privater Investitionen, was sicherlich einen besseren Zugang zu den Finanzmärkten erfordert (der Hauptaspekt des Draghi-Berichts, der auf einer Kapitalmarktunion besteht).

Aber auch, und das würde ich vor allem sagen, durch eine Erhöhung der Löhne und der Kaufkraft, um die Binnennachfrage anzukurbeln, und durch eine Wiederbelebung der öffentlichen Investitionen in materielle und immaterielle Infrastruktur, die als Hebel für private Investitionen wirken.

Es sei daran erinnert, dass zu den Empfehlungen des Draghi-Berichts eine Erhöhung der Investitionen um 800 Milliarden Euro pro Jahr gehörte, die unter anderem durch die Schaffung einer gemeinsamen Kreditaufnahmekapazität erreicht werden sollte.

Ein Vorschlag, der völlig von der Bildfläche verschwunden ist, während die europäischen Länder, wenn es darum geht mehr für die Verteidigung auszugeben bewundernswerten Aktivismus und Flexibilität bei der Auslegung der Regeln zeigen.

(Eigene Übersetzung eines Blogbeitrages des italienischen Ökonomen Francesco Saraceno)